Quattro-Entwicklung am Polarkreis
Es gibt gastlichere Ziele für Dienstreisen als den Polarkreis. Doch für die Audi-Entwickler hat der hohe Norden eine ganz besondere Bedeutung. Denn hier oben im Eis ist vor 55 Jahren die Idee für den Quattro-Antrieb entstanden. Und hier schreiben sie an seiner elektrischen Zukunft.
SPX/Arvidsjaur/Schweden. Es ist kalt, es ist windig, und so richtig hell wird es heute auch nicht mehr. Carsten Jablonowski kann deshalb kaum die Konturen der Landschaft erkennen. Geschweige denn den Kurs, den ihm seine Kollegen hier auf dem zugefrorenen See in den Schnee gefräst haben. Der Himmel grau, der Boden weiß und keine Kontraste – das bedeutet mal wieder Blindflug. Doch das hindert den Mann nicht an einem hohen Tempo. Schließlich kennt er die Runde aus dem Effeff. Denn Jablonowski ist Entwicklungsingenieur bei Audi und jeden Winter mehrfach hier oben am Polarkreis zu Gast, um den neuesten Modellen aus Ingolstadt und Neckarsulm den letzten Schliff zu geben. Immer und immer wieder fährt er deshalb durch die Kreisbahn oder über den Handlingkurs, um die Fahrwerksregelsysteme abzustimmen und die richtige Balance zwischen Traktion und Drift, zwischen Stabilität und Spaß zu finden. Dabei fährt er oft viel langsamer als man es aus den üblichen Dokumentationen kennt. „Denn es geht und ja weniger um Stunts als um Alltagssituationen, deshalb tasten wir uns ganz langsam und von weit unten an den Grenzbereich heran“, erläutert der Experte. Doch der gepflegte Drift gehört natürlich trotzdem zum Programm, genau wie die meterlange Schneeschleppe, die sein Erlkönig dabei hinter sich herzieht wie die Queen ihren Hermelinmantel.
Angst, dass die Eisschicht seinen Prototypen nicht trägt, muss er nicht haben – selbst wenn es in diesen Tagen eigentlich viel zu warm ist und das Thermometer nur selten zweistellig unter null zeigt Aber schon zu Beginn der Saison kontrolliert das Team das Eis mit einem Schneemobil und misst die Dicke. Mindestens 25 bis 30 Zentimeter müssen es sein, um darauf mit einem Auto fahren zu können, jetzt in der Hochsaison der Tester misst die Schicht oft mehr als 90 Zentimeter. Und weil darauf so viele Runden gedreht werden, wird das Eis auf der Strecke so stark verdichtet, dass es im Frühling entsprechend langsamer taut. Wenn die anderen Seen längst wieder frei sind, schwimmen deshalb auf den Seen der Tester oft bis in den Frühsommer noch riesige Kreisbahnen oder die Schlangenlinien der Slalom-Kurse.
Die Bayern sind im hohen Norden nicht alleine. Im Gegenteil. Egal ob zwischen Rovaniemi und Ivalo in Finnland oder zwischen Arvidsjaur und Arjeplog in Schweden, gibt sich nördlich des Polarkreises jeden Winter die gesamte Autobranche ein Stelldichein, um ihre aktuellen Produkte auf Herz und Nieren zu testen, die Regelsysteme abzustimmen und Klimaanlagen, Scheinwerfer oder Dichtungen unter widrigsten Umständen auf die Probe zu stellen. „Was sich im Winter von Arjeplog bewährt, das lässt auch das Wetter in Deutschland kalt“, lautet der Tenor der Testfahrer, die bei ihren Reifeprüfungen oft Tag für Tag hunderte von Kilometern auf den verschneiten Nebenstraßen und den eisigen Testpisten abspulen.
Für Audi hat die Arbeit im arktischsten Zipfel des Kontinents eine ganz besondere Bedeutung. Denn es war bei Wintertests nördlich des Polarkreises, als sich der damalige Entwicklungschef Ferdinand Piech von der Unbeirrbarkeit eines nahezu fertig entwickelten VW Iltis zum Einsatz des Allradantriebs in einem sportlichen Audi hat inspirieren lassen. Das war 1977 und hat nur drei Jahre später zum Ur-Quattro geführt und damit zum „Vorsprung durch Technik“. Denn der sportliche Allradantrieb war es, mit dem Audi zu Mercedes und BMW aufschließen und sich als dritte Größe im Oberhaus festfahren konnte.
„Quattro gehört seitdem zur Audi- DNA“, sagt Entwicklungschef Oliver Hoffmann und seine Ingenieure geben sich damit deshalb besondere Mühe. Denn nicht zuletzt beim Allradantrieb entscheidet sich, wie sich ein Audi anfühlt. „Und wer einen Audi fährt, muss Audi spüren können – in Form von stimmigen, charakteristischen Fahreigenschaften“, hat Hoffmann seinem Team in die Testfibel diktiert: „Die Genetik des Audi Fahrgefühls soll der Kunde unverwechselbar erleben können.“ Dies gilt für jede Fahrsituation, egal ob beim Stop-and-Go, bei der Beschleunigung am Ortsausgang, beim Fahren auf kurvigen Strecken, bei wechselnden Fahrbahnbedingungen oder beim Überholen.
„Ausbalanciert, solide, kontrolliert, vernetzt, präzise und mühelos“ – so beschreiben die Bayern den Charakter ihrer Autos und stellen in hunderten genormter Fahrmanövern mit Messungen, Fragebögen und langen Diskussionsrunden sicher, dass jedes Auto vom Kleinwagen bis zur Luxuslimousine, vom Einstiegsdiesel bis zum elektrischen RS-Modell die gleichen Grundzüge hat.
Dieser Charakter ist zwar über die Jahre gleichgeblieben. Doch wie er gebildet wird, das hat sich gravierend verändert. Schließlich fährt die Mehrheit der Prototypen hier oben im Norden bereits elektrisch und öffnet den Ingenieuren damit ganz neue Möglichkeiten der Abstimmung. Zu den vielen elektronischen Regelsystemen für Traktion und Stabilität kommen jetzt noch bis zu drei Motoren, die viel schneller ansprechen und präziser gesteuert werden können, als jeder Verbrenner und die obendrein noch viel früher ein viel höheres Drehmoment entwickeln. Nicht nur die Kraftentfaltung, sondern vor allem die Kraftverteilung eröffnet Männern wie Carsten Jablonowski ganz neue Möglichkeiten – und macht ihnen bisweilen auch ein bisschen mehr Mühe.
„Wir haben mittlerweile ein paar mehr Stellschrauben, die wir erst einmal verstehen lernen mussten“, erläutert der Experte. Doch jetzt, wo sie ihr neues Instrumentarium kennen, können sie den Wagen damit viel präziser abstimmen und den Quattro-Antrieb so ganz geschickt in die Zukunft führen. „Jetzt sind wir es, die die Latte für die Fahrdynamik hochlegen. Und die Kollegen aus der Verbrenner-Welt müssen sich ganz schön strecken, wenn sie die erreichen wollen“, sagt Jablonowski und wechselt vom e-tron GT in einen e-tron Sportback, der zum bevorstehenden Facelift nicht nur ein Update für den Antrieb bekommen dürfte, sondern auch ein spürbar nachgeschärftes Fahrprofil: Ohne dass er einen der bestimmenden Charakterzüge vernachlässigen würde, soll er damit etwas engagierter wirken und die Nerven des Fahrers etwas intensiver kitzeln.
Aber auch der beste Quattro kann die Grenzen der Physik allenfalls verschieben und nicht überwinden. Das müssen auch die Entwickler immer mal wieder lernen, wenn ihr Schneewalzer ins Abseits führt, sie übers Eis hinausschießen, in einer weißen Wand stecken bleiben und mit gekränktem Stolz die Kollegen im Bergeauto holen müssen. Die kommen aller Elektrifizierung zum Trotz allerdings nicht mit einem e-tron, sondern mit einem aufgerüsteten Amarok. Genau wie vor 55 Jahren der Iltis trägt auch der ein VW-Logo – und schließt damit den Kreis.
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