Als der Elch kam - 25 Jahre nach dem Umfaller der A-Klasse
Der Umfaller der Mercedes A-Klasse im Jahre 1997 brachte Mercedes aus der Spur und das ESP serienmäßig in die unteren Klassen. 25 Jahre später heißt das Ziel: komplett unfallfreies Fahren.
SP-X/Immendingen: Der 21. Oktober 1997 war für Mercedes Benz ein Tag von historischer Tragweite. Ein Datum, das nicht nur für eines der dunkelsten Kapitel in der langen Firmengeschichte steht, sondern auch für eine Zäsur in Sachen Sicherheitspolitik von Automobilen. Vor exakt 25 Jahren, einem sonnigen Dienstag, legte die schwedische Zeitschrift „Teknikens Värld” die A-Klasse aufs Dach - und kippte damit einen Weltkonzern aus der Bahn. Bei dem routinemäßigen Ausweichmanöver, der später als Elchtest in die Geschichte eingehen sollte, hob der Kompaktwagen nach plötzlichem Spurwechsel zunächst hinten ein Bein, geriet dann ziemlich unkontrolliert ins Schlingern und rollte sich schließlich seitlich ab. Der Dachschaden für Mercedes war episch.
Nach Veröffentlichung des Berichts der Schweden erfolgte weltweit ein riesiger medialer Aufschrei, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Spott und Hohn. Was für eine Blamage. Ausgerechnet Mercedes! Selbsternannter Primus der Branche, wenn es um Sicherheit geht. Erfinder der Knautschzone. Die ersten, die ABS und Airbags in die Serie einführten. Und nun das.
So konsequent wie der Weltkonzern zunächst jegliche Verantwortung von sich wies und technische Probleme kategorisch ausschloss, handelte er dann schließlich doch. Bereits Anfang Februar 1998 lief die erste A-Klasse mit serienmäßigem ESP vom Band. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Das Elektronische Stabilitätsprogramm ist seitdem selbst aus Kleinwagen nicht mehr wegzudenken. Seit November 2014 müssen alle in der EU neu zugelassenen Pkw serienmäßig mit ESP ausgestattet werden. Der Schutzengel für Autofahrer, eine Verknüpfung des Antiblockiersystems ABS mit einer Antriebsschlupfregelung, einer elektronischen Bremskraftverteilung sowie einem Bremsassistenten, wurde 1995 erstmals in der S-Klasse eingeführt und hat seitdem vermutlich Tausende von Menschenleben gerettet. 2020 produzierte Bosch bereits das 250-millionste ESP-System, 87 Prozent aller weltweit verkauften Neuwagen hatten ESP an Bord.
Gerade auch für die Techniker von Mercedes-Benz war der Umfaller der A-Klasse der Weckruf zu einer Entwicklung, an deren Ende die Vision vom komplett unfallfreien Fahren stehen soll. Derzeit projiziert auf das Jahr 2050. „Sicherheit ist für uns längst eine Passion” sagt Christoph Böhm, Leiter der Fahrdynamiksysteme bei Mercedes Benz und ergänzt: „Wir können heute zwar noch nicht gänzlich verhindern, dass es zu einem Unfall kommt, aber wir können mit unserer Technologie Schwere und Folgen deutlich minimieren.”
Böhms elektronische Lebensretter können nur effizient sein, wenn auch die Konstruktion des Fahrzeugs stimmt. Die Arbeit daran beginnt bereits bei den aufwändigen Crashtests, in denen eine Vielzahl an Belastungen durchgespielt werden. Bei mehr als 1.500 Simulationen wird die Sicherheit von Passagieren, Komponenten sowie der Batterie überprüft, bevor das Auto auf den Markt kommt. Der Akku sowie alle Hochvoltkomponenten sind so abgesichert - teilweise mehrstufig -, dass sie bei einem Unfall höchste Sicherheitsanforderungen erfüllen. Ausgeklügelte Rückhaltesysteme im Innenraum schützen die Insassen effektiv.
Für die Ingenieure im Team von Böhm steht die Vernetzung aller Systeme im Fokus. Wie gelingt es, Sensorik und Funktionen von Bremsen, Lenkung, Fahrwerk sowie dem Antrieb so zu verschmelzen, dass am Ende ein einziges großes, autarkes Organ entsteht. Eine entscheidende Rolle übernimmt dabei die immer komplexer werdende Software. „Ziel ist es, diese eines Tages komplett im Hause zu entwickeln", sagt Böhm. Daran tüfteln schon heute Hunderte von Software-Spezialisten in den Mercedes-Laboren von Indien über China, USA und Deutschland. Eine große Herausforderung, aber auch riesige Möglichkeiten bieten aktuell E-Fahrzeuge bei der Weiterentwicklung aller sicherheitsrelevanter Regelsysteme. Elektromotoren sind äußerst performant, also enorm leistungsfähig und reagieren mit extrem kurzer Verzögerung auf Befehle aus den elektronischen Superhirnen.
Aktuell spiegelt sich diese Entwicklung zum Beispiel bei der Vernetzung der Fahrdynamik- und Bremssysteme mit der Hinterachslenkung wider. Fahrversuche mit den vollelektrischen Modellen EQE und EQS unterstreichen auch für Laien, wie die Elektronik es schafft, die großen, schweren Autos bei unerwarteten Ausweichmanövern oder bei Gefahrenbremsungen auf Untergrund mit unterschiedlichen Reibwerten (Trocken/Eis), sicher in der Spur zu halten. Dazu kommen natürlich alle weiteren elektronischen Assistenten, die vorausschauend die Umgebung abtasten, und sich in jeder Millisekunde auf den einen Moment konzentrieren, in dem vielleicht gerade ein Elch die Straße überquert.
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